Monday 19 June 2017

Internetforen und Regression

Das kleine Kind hat die Begriffe noch nicht, um sich auf der Objekt- oder Sachebene zurechtzufinden. Seine erste Orientierung erfährt es durch die Reaktion der Eltern oder Großeltern auf das Gesagte, auf sein Handeln. Wird es gelobt? Wird es nicht gelobt oder sogar getadelt? Dieses vorbegriffliche Hineintasten in die Welt der Werte und Normen ist sehr wichtig, denn jedes Kind möchte gefallen, jedes Lob ist schön, es erfreut, macht glücklich. Es wäre unsinnig, ein kleines Kind "selbst entscheiden" zu lassen, was gut oder schlecht ist. Denn, wir sagten es schon, es fehlen die Begriffe, somit der verstehende Zugriff auf die Sachebene.

Eine gute Erziehung verfolgt zwei Ziele, die sich dialektisch aufheben (im Hegel'schen Sinn): Je größer die Urteilskraft des Kindes wird, desto weiter soll es sich entfernen von Erziehung. Eine geglückte Individuation bedeutet Aufhebung von Erziehung unter gleichzeitigem Bewahren des Erlernten. Nietzsches Bonmot, wonach ein Schüler schlecht ist, der immer Schüler bleibt, kann durchaus Blaupause sein. Eine geglückte individuation darf nicht verwechselt werden mit einer trotzigen "Emanzipation", die oft nur eine simple Reaktionsbildung ist: mein Vater will, dass ich seine Anwaltskanzlei übernehme, also fahre ich nach Indien und unterwerfe mich einem Guru (d.h., einem anderen autoritären Vater).
Paul Watzlawick hat das mal in seiner wunderbar witzigen Art so formuliert: Reife ist, wenn die Eltern einen Rat geben und man diesen trotzdem befolgt. Fallen wir zurück auf eine frühere Entwicklungsphase, die überwunden sein sollte, sprechen wir von Regression.

Nun können wir nicht einfach alles abschütteln, was uns einst lenkte und formte: wir wollen gefallen, wir sind eitel. Kein Grund, sich nun gemütlich mit einem "so ist das eben" zurückzulehnen. Alle, die schon einmal nachgedacht haben, versuchen, die Fallstricke dieser Eitelkeit wenigstens sichtbar zu machen. Unsere Eitelkeit lauert überall, sie vernebelt das Denken. Wie leicht können wir durch Schmeicheleien gelenkt, manipuliert werden. Wir, das heißt zuallererst ich. Darum geht es nämlich. Wie schütze ich mich vor den tückischen Schmeicheleien, vor dem Lob anderer, das mich lenkt. Es ist billig, da die Schuld bei "den anderen" zu suchen. Nein, nein. Ich bin der Empfänger, ich muss auswerten, interpretieren, anwenden.

Viel Größere als ich wussten das alles und haben versucht, methodisch gegen diesen Selbstbetrug anzudenken. Descartes, der mir immer wertvoller wird in diesen geistfeindlichen Zeiten, hat versucht, durch den methodischen Zweifel zu verlässlichen Erkenntnissen zu gelangen. Seine Forderung, dass allein die methodische Strenge der Mathematik sinnvolles Denken überhaupt ermöglicht, wünsche ich mir zurück angesichts des groben Unfugs, der heute selbst an Universitäten gequatscht wird. Übrigens lassen sich seine "regulae ad directionem ingenii" ganz wunderbar im Alltag anwenden. Ich mache das jedenfalls so. Ein "Riesenproblem", das mich zu ersticken droht, zerbreche ich in Teilprobleme, die Stück für Stück gelöst werden (induktiv). Zum Schluss dann die Rekursion: ist mit den Teilstücken das Problem vollständig vom Tisch oder habe ich irgendwo was vergessen? Oder habe ich geschummelt?

Vor 40 Jahren hätte ich mir nicht träumen lassen, bei Kant auch nur den kleinsten Stein des Anstoßes zu finden. Heute macht mich gerade der erste Satz aus seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten misstrauisch: das Absolutsetzen des guten Willens, ja seine Heiligsprechung. Nun schrieb Kant für die gelehrte Welt und konnte nicht ahnen, welche Sorte von Gesinnungsethikern heute in höchste Ämter gelangen. Da wird ja der größte Blödsinn spielend gerechtfertigt durch ein "es war gut gemeint", das katastrophale Handeln war dann immer getragen vom edlen, guten und damit unantastbaren Willen (wer definiert den?).

Zurück zur Regression. Internetforen sind i.d.R. Interessengemeinschaften. Natürlich werden sich in einem Forum für Modelleisenbahner kaum Foristen finden, die der Beschäftigung mit Modelleisenbahnen grundsätzlich ablehnend gegenüber stehen. Wenn es um das Für und Wider bestimmter Spurbreiten geht, kann es aber schon kontrovers zugehen. Oder ob ein billiger Nachbau aus Fernost noch zum Kanon des Ernstzunehmenden zu rechnen ist oder nicht.

Gerade die spezialisierten Foren eignen sich für Beobachtungszwecke sehr gut, einfach weil die Mitgliederzahl sehr überschaubar ist. Dass es ein paar wenige "Platzhirsche" gibt, die oft über gute Kenntnisse verfügen, ist natürlich wertvoll, denn gerade Anfänger suchen ja Hilfestellung. Interessant ist aber was anderes: diese Platzhirsche gelten mitunter als unantastbar, sie wissen alles oder alles besser. Auch dagegen ist nichts einzuwenden, wenn dem so ist. Für nicht wenige sind Internetforen Sekundärfamilien, die Platzhirsche sind die, je nachdem, gestrengen oder auch mal milden und wohlwollenden Väter. Im Gegensatz zum Neuling, zum Hilfesuchenden, bemühen sich die "aus der zweiten Reihe" (Kinder) sich in die Gunst der Sekundärväter zu schreiben. Sie möchten - wie Kinder - ihren Eltern gefallen. Das heißt hier aber, dass ihr Denken und somit Schreiben gelenkt ist mit dem einzigen Ziel: dem Vater zu gefallen. Regression. Verstärkt und erleichtert wird diese anti-emanzipatorische Tendenz durch die Vergabe von "Likes" oder "Dislikes". Kinder, die "gedisliked" wurden, schauen schnell nach, wer sie denn "nicht lieb hat." War es ein Unwichtiger oder etwa der "Vater"? Wenn zweites zutrifft, wird sich das Kind beim nächsten Mal "Mühe geben", es wird sich wieder in die Gunst des Vaters schreiben.

Mir ist die Unzulänglichkeit meiner Darstellung bewusst. In dieser kleinen Betrachtung geht es auch nur um eine sehr grobe Darstellung der Forendynamik. Weil ich versuche, Kierkegaards "De omnibus dubitandum est" zu beherzigen, stelle ich mich in jedem Internetforum unter strenge Selbstkontrolle. Will ich jemandem gefallen? Und wenn ja, schreibe ich anders, damit ich ihm gefalle?            

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