Wednesday 29 June 2016

Ein Denkfehler und seine Folgen

Das UK meint, es könne auch ohne die EU glänzend wirtschaften, weil es ja die fünft stärkste Wirtschaftsmacht sei. Das ist ein prägnantes Beispiel für einen schweren Denkfehler: ein Tatbestand, der immer nur eine Momentaufnahme ist und nur in einem Gesamtsystem Geltung hat, wird betrachtet wie ein isoliertes Ereignis, das es, ganz nebenbei, nirgends gibt. In der Naturwissenschaft werden bei jedem Experiment Anfangs- und Nebenbedingungen peinlichst berücksichtigt, um (Mess-)Fehler möglichst klein zu halten und damit eine Fehlinterpretation des Ergebnisses zu verhindern. 

Was in vitro, also unter Laborbedingungen, schon schwer ist, ist in vivo fast unmöglich. Wir können sagen, dass Anfangs- und Nebenbedingungen unüberschaubar, die möglichen Störungen unberechenbar sind. Ein Vergleich mit den Sport-Weltranglisten ist gar nicht so schlecht. So könnte etwa ein vierter Platz nur dann möglich sein, wenn der Weltranglisten-17te gegen den Weltranglisten-8ten am nächsten Dienstag gewinnt. Ein sehr hypothetisches Beispiel, das aber zeigt, dass das gesamte System stets beteiligt ist, dass es hier einen isolierten vierten Platz nicht gibt. Störungen können dieses Gefüge schnell durcheinanderbringen. Ein Spieler, eine Mannschaft hatte einen besonders schlechten, andere Spieler einen besonders guten Tag, und schon kann sich etwas ändern, ohne dass der Viertplatzierte sich verändert hätte. 

Binnen 48 Stunden nach dem Brexit haben der Weltmarkt und die Rating-Agenturen den Ist-Zustand des Landes verändert. Schon die Herabstufung der Bonität durch die Rating-Agenturen veränderte Anfang- und Nebenbedingungen. Wie der berühmte umgeworfene erste Dominostein die ganze Reihe zum Fallen bringt, können nun auch für das UK sich Konsequenzen aus diesen neuen Bewertungen ergeben. Eine schlechtere Bonität bedeutet, dass Geld schwerer zu bekommen und teurer ist. Das heißt, dass sich die Anfangsbedingungen für jeden großen Deal geändert haben. Einfach so, über Nacht sozusagen. Langsam setzt sich auch im UK diese Erkenntnis durch: stark war das Land nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Zu diesen gehörte eben die Mitgliedschaft in der EU. Die Kündigung dieser Mitgliedschaft kam dem Fallen des ersten Dominosteines gleich, und niemand kann vorhersehen, wie viele Steine nun fallen werden und wie schnell.

Besonders den Leserkommentaren in den einschlägigen Massenblättern wie Daily Mail oder The Sun kann man entnehmen, dass viele Briten aus der Unterschicht ein paradoxes Verhältnis zum Regiert-Werden haben. Um das zu verdeutlichen, greife ich mal auf die marxistische Terminologie zurück: sie lassen sich gerne ausbeuten und unterdrücken, wenn die Ausbeuter Briten sind. Sie pflegen eine paranoide Angst vor einem evozierten EU-Superstaat, der ihnen ihre „Souveränität“ nehmen könnte. Es geht also gar nicht um irgendeinen Sieg der Arbeiterklasse, um die Rückgewinnung der Kontrolle durch das Volk, ja um die Macht des Volkes. Nein, sie lassen sich gerne von allen Mächtigen herumschubsen, wenn die Mächtigen Briten sind. Das ist so kurios als wenn ein Sklave zufrieden ist mit seinem Los, aber nur, wenn sein Herr ein Schwarzafrikaner ist. Der kann noch so brutal und stinkreich sein, macht nichts, da blutet man doch gerne. Aber wehe, ein Weißer ist der neue Herr. Auch wenn der unter Umständen für bessere Arbeitsbedingungen und Lohn sorgt, nimmt er dem stolzen Sklaven seine „Souveränität“. Ohne eine Statistik vorlegen zu können, ist das der Tenor in den Leserkommentaren. Ich habe gewiss nicht alle gelesen, habe mich aber recht fleißig umgeschaut. Immer wieder tauchen Floskeln auf wie „von Merkel regieren lassen“, von den „undemokratischen Brüssel-Bürokraten bevormunden lassen“. Fremdbestimmung wird also nur wahrgenommen, wenn sie (geografisch) „von außen“ kommt (Europa war und ist für diese Briten immer das Außen). 


Wir können aber feststellen, dass diese einfältig verengte, vulgärnationalistische Sicht tatsächlich ein Unterschichten-Phänomen ist. Die gebildeteren Briten haben buchstäblich einen weiteren Horizont. So zeigen etwa die Leserkommentare des „The Guardian“ eine erfrischendere nüchterne Sicht. Zwar hagelt es auch hier - und zu Recht - viel Kritik am Apparat der EU, gleichzeitig wird gesehen, dass man unterm Strich innerhalb der EU besser dasteht. Und um mehr geht es doch gar nicht. Ich kann mich nur wiederholen. Es ging und geht nie um die Alternativen Paradies oder Elend, Himmel oder Hölle. Es geht um Vor- und Nachteile, es geht um die Bilanz. Und solange ein Volk das nicht versteht, sondern aus dem gefühlsduseligen Nationalbauch heraus über das Wohl und Wehe eines Landes und seiner Einwohner entscheiden darf, sind Zweifel an dieser Form von Demokratie (nach Aristoteles ist es eine abzulehnende Ochlokratie) berechtigt.    

Derselbe Denkfehler unterläuft aber auch denen, die jetzt die EU geißeln, weil sie eine schnelle Entscheidung und Abwicklung seitens des UK fordert. Da heißt es, das sei doch ganz alleine Sache des UK, und solange es keinen Antrag gestellt hat, gehe das die EU überhaupt nichts an. Auch hier wird eine Sache isoliert, die jedoch das Gesamtsystem beeinträchtigt. Nehmen wir an, ein wichtiger Arbeitnehmer, der eine Schlüsselstellung in der Firma hat, verkündet, in Kürze wahrscheinlich kündigen zu wollen. Nun, man könnte sagen, solange die Kündigung nicht eingereicht wurde, geht das den Arbeitgeber und die Kollegen nichts an. Aber ist das so? Der Arbeitgeber muss die Lücke füllen, einen geeigneten Ersatz finden, Arbeitsabläufe könnten gestört, Abmachungen vielleicht nicht eingehalten werden, Kunden könnten nicht termingerecht beliefert werden usw. Weil eben das Gesamtsystem Firma betroffen ist, wird der Arbeitgeber auf eine klare und schnelle Entscheidung des Arbeitnehmers drängen (müssen).      

Wenn der kleine Schwanz mit dem großen Hund wackelt

Eben beim Einkaufen aufgeschnappt und halblaut aufgelacht: The Times, riesige Überschrift mit Leitartikel. Noch-PM Cameron warnt die EU. Wenn Groß(?)britannien nicht Sonderrechte bzgl. Immigration von EU-Ausländern eingeräumt werden, wird - Himmel hilf! - GB keinen Handel mehr mit dem EU-Binnenmarkt treiben. Donnerwetter. Herr Cameron, sind Sie noch betrunken? Was glauben Sie wohl, was passiert, wenn Schottland in der EU bleibt oder nach der Abspaltung beitritt? Wo, glauben Sie, werden die EU-Autowerke (allein vier deutsche Autowerke!) u.a., die sich noch auf britischem Boden befinden, hinziehen? Und zwar ruckzuck? Und wo werden die EU-Banken, die sich noch in der City of London befinden, hinwandern? Ist nicht weit, Mr Cameron. Sie sollten wissen, dass Edinburgh der zweitgrößte Finanzplatz auf der Insel ist. Sie wissen doch hoffentlich, dass kein Großinvestor nach GB kam wegen der guten Küche (lach), sondern weil GB ein englisch sprechendes Eingangstor zum EU-Markt war. Das kann auch Schottland werden, werter Noch-PM. Und jetzt schlafen Sie erstmal Ihren Rausch aus.       

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