Sunday 2 July 2017

Die im Dunkeln sind irgendwie toll

Der aufmerksame Leser wird das Brecht'sche "Die im Dunkeln sieht man nicht" wiedererkennen. Die Zeiten sind vorbei, die "im Dunkeln" werden nicht nur gesehen, man biedert sich ihnen an. Der amerikanische Soziologe Fussell* bezeichnet diese Dynamik als "prole drift", soll heißen, die Kultur fließt nicht mehr von oben nach unten, sondern umgekehrt: das Unten, die Deklassierten, Armen wurden zum Faszinosum für die Mittelschicht, vor allem für deren Kinder.

So neu ist das Phänomen nicht. Schon im 16. Jahrhundert gab es die "Landsknechtmode". Adlige trugen die von Hiebwaffen zerfetzten Wamse der Landsknechte, allerdings stopften sie die Risse mit allerlei wertvollen Stoffen wie Seide aus, um ganz klar sichtbar zu machen, dass sie keineswegs Landsknechte sind. Und natürlich haben sie die Wamse künstlich zerschneiden lassen. Man würde das heute als Heuchelei, Arroganz und Gönnerhaftigkeit geißeln. Ich nenne es Ehrlichkeit. Wem jetzt die absichtlich zerschnittenen Jeans unserer Jugend einfallen, liegt ganz richtig. Aber das ist wohl was ganz anderes. Das ist ehrlich, das zeigt Solidarität mit den Zukurzgekommenen. Ach ja?

Wenn ich durch mein Städtchen flaniere, sehe ich natürlich nicht wenige Jugendliche mit "künstlich zerrissenen Jeans", aber auch echte Obdachlose, echte Zukurzgekommene. Interessant ist, dass ich (und wahrscheinlich jeder aufmerksame Beobachter) sofort den Unterschied bemerke. Es sind auffällige Details. Zum Beispiel fuchteln echte Arme nicht mit einem Smartphone aus dem hohen Preissegment herum. Auch das Haar tragen sie nicht so bemüht unordentlich, eher im Gegenteil, echte Arme bemühen sich um Würde, die sich auch im Äußeren widerspiegelt. Nur der Snob kann es sich leisten, auf diese Form der Würde zu verzichten. Aber wir finden diesen "prole drift" nicht nur im Modebereich.

Viel verhängnisvoller wirkt er sich auf die Bildung, ja auf die geistige Verfassung der Gesellschaft aus. Noch vor vielleicht 60 Jahren bemühten sich intelligente Arbeiterkinder, aus dem geistigen Korsett ihrer Schicht zu entkommen. Sie lasen, lernten, besuchten Kurse usw., weil sie "driften", nämlich Anschluss an den Habitus der (damals) gebildeteren Mittelschicht bekommen wollten. Das heißt, Kultur floss von oben nach unten, und Aufgeweckte, die ihre geistig ärmere Schicht nicht idealisierten, profitierten davon, konnten sich nicht selten auch beruflich weit nach oben arbeiten.

Damit scheint es seit vielleicht 40 Jahren vorbei zu sein. Der Primus schämt sich heute, weil er dummerweise (sic!) bessere Noten schreibt als Klein Doofie. Und wehe, der gute Schüler ist sogar ein klein bisschen stolz und zufrieden mit seiner guten Leistung, dann setzt es was. Dann machen ihm die Lehrer klar, dass Klein Doofie genauso gut ist, nur eben, ja, benachteiligt. Das ist heute das Zauberwort. Fehlt nur noch unterdrückt und ausgegrenzt. Verweist man auf die aufstrebenden Arbeiterkinder von einst, gibt's gleich nochmal Haue. Die hätten ja ganz andere Chancen gehabt, und außerdem war damals der Druck (oh ja, der Druck heute...) nicht so hoch. Das alles ist lächerlich. Die Anforderungen sind keineswegs höher, im Gegenteil. Erst kürzlich ergab eine Untersuchung, dass 12-jährige Gymnasiasten der frühen 70er Jahre den Stoff in Mathematik beherrschten, den heute 16-Jährige absolvieren müssen - wenn sie denn das Fach nicht längst abwählen durften.

Nein, was sich zum Schlechten geändert hat, ist die geistige Haltung. Sie ist geistfeindlich, die geistige Elite ist nicht mehr Vorbild, sie wird geächtet. Den Besseren darf es einfach nicht geben. Alle müssen gleich (doof) sein. Unterschiede, die es buchstäblich seit Menschengedenken gibt, darf es nicht geben. Deshalb werden sie geleugnet.

Die Folge ist, dass die Unterschicht überhaupt keinen Grund mehr hat, sich anzustrengen, sich zu befreien. Warum denn auch? Sie liegt doch genau richtig, mehr noch, die anderen kommen runter und applaudieren.

Aber Gemach, das alles scheint nur so.
Fast unbemerkt von den ideologisch Verkorksten geht die herrschende Schicht ganz ungestört ihren Weg. Nun schickt sie ihre Kinder nicht mehr auf "künstlich zerschnittene" Gleichmacherschulen (einstmals gute und kostenlose Schulen), sondern auf teure und erstklassige Privatschulen und Universitäten. Der Weg an die Hebel der Macht ist dadurch noch leichter geworden, denn natürlich sehen Arbeitgeber sofort den Unterschied zwischen "Abitur" und Abitur. Dieser Weg ist Kindern aus einkommensschwachen Familien natürlich verwehrt. Dafür bekommen sie dann ein "Abitur", mit dem sie mit Fleiß und viel Glück irgendwo im mittleren Berufsbereich landen können. Wenn sie noch mehr Glück haben und weiblich sind, können sie als "Quotilden" noch etwas höher steigen.
Gewaltsame Gleichmacherei sieht so aus. Chancengleichheit nicht.

*Paul Fussell: Class: A Guide Through the American Social System, New York 1982
   

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