Wednesday 5 October 2016

Ein gutes Neues Jahr...

..wünsche ich allen Juden. Zehn Tage Zeit, mit sich ins Gericht zu gehen. Mir fallen viele Fehler ein, die ich gemacht habe, viele Hässlichkeiten, für die ich mich entschuldigen möchte. Jetzt ist die Zeit dafür. Mir fällt in dieser Zeit zwischen Rosh Hashana und Jom Kippur auch immer Josef K. ein.

Kafkas "Prozess" findet in diesen Tagen statt. Worin besteht Josef K.s Schuld? Viele Leser sehen ihn als Opfer einer bürokratischen Maschinerie, als unschuldigen Menschen, der von einem mysteriösen Gericht verurteilt und hingerichtet wird. Ist das so? Schauen wir ihn mal an, den selbstgefälligen, nur auf seine Karriere bedachten, möblierten 30-Jährigen, der sich von der Wirtin Frau Grubach von oben bis unten bedienen lässt. Familie gründen? Aber nicht doch. Verantwortung übernehmen? Auf keinen Fall. Seine Nichte ist ihm lästig, seine kranke Mutter besucht er ab und zu, aber nicht, weil er sie liebt, sondern aus Pflichtgefühl, weil man das eben so macht. Für die Triebabfuhr sorgt eine Kellnerin. Aber er ist eine große Nummer in seiner Bank und "wird sogar dem Direktorstellvertreter schon gefährlich". Er geht mit seinem Chef, dem Direktor, auch mal zum Biertisch, aber nur, weil das seiner Karriere förderlich sein kann. Tiefere Beziehungen geht er nicht ein. Auch im Verlauf seines Prozesses benutzt er Frauen. Sie sollen ihm helfen. Nur darum geht es ihm bei anderen Menschen.

Josef K. unterscheidet sich kaum von vielen anderen Karrieremenschen. Und er repräsentiert einen Typus, den Kafka verachtete und dem er selbst angehörte: Josef K. ist der überassimilierte West-Jude, der von seinen Wurzeln, von seiner Tradition nichts mehr weiß und nichts wissen will. Deshalb versteht er nicht, was mit ihm geschieht. Deshalb versteht er seine Schuld nicht. Aus jüdischer Sicht führt er ein falsches, oder zumindest unvollständiges Leben.

Plötzlich geschieht etwas, und seine bürgerliche Ordnung gerät ins Wanken. Es ist sein Geburtstag (Rosh Hashana, wie sich leicht entschlüsseln lässt), er erwacht, und ihm unbekannte Männer stehen in seinem Raum. Sie teilen ihm mit, dass er "verhaftet" ist (nicht "festgenommen", wie einige missverstehen! Kafka muss wortwörtlich gelesen werden!). Verhaften hat im Deutschen mehrere Bedeutungen. Josef K. wird an etwas festgehaftet, festgeklebt. Er wird nicht eingesperrt, im Gegenteil, er kann sich frei bewegen - wenn er es noch kann. Dieses Gericht "wird von der Schuld angezogen"(!), es nimmt den Angeklagten auf, wenn er kommt und entlässt ihn, wenn er geht. Bis zum letzten Tag, bis Jom Kippur, wird Josef K. nicht verstehen, worin seine Schuld besteht. Er ist seiner Tradition so entfremdet, dass er es auch nicht mehr verstehen kann. Er verlacht das Gericht, das auf schmutzigen Dachböden tagt (auf Dachböden sind die Truhen, Kisten, Koffer, die auch schmerzliche Erinnerungen bewahren und die verschlossen bleiben sollen). Gleichzeitig geht er brav zu den Gerichtsterminen. Aber er sucht die Schuld nur beim Gericht, er selbst hat sich nichts vorzuwerfen. Er versteht nicht, wie armselig und rücksichtslos er ist.

Kakfa hat immer darunter gelitten, dass er als "Am-harez", als im jüdischen Sinn Ungebildeter aufgewachsen ist. Sein assimilierter Vater annoncierte sogar seine Bar Mitzwa als "Confirmation", um seine nicht-jüdischen Kunden nicht zu verschrecken.

Lesen wir die Tagebücher, finden wir besonders im Jahr 1911 unzählige Eintragungen, die sich mit seinem (fast täglichen!) Besuchen im Jiddischen Theater beschäftigen. Diese Welt des Ostjudentums fasziniert ihn, er freundet sich mit dem Schauspieler Jizak Löwy an. Und er leidet darunter, dass sein Vater diese Menschen niedermacht und als "Ungeziefer" bezeichnet (bezeichnend: In der "Verwandlung" verwandelt sich Gregor Samsa in ein Ungeziefer...). Er versucht, diese ihm so fremde Welt zu verstehen. Viel später, mit 40 Jahren, also kurz vor seinem Tod, lernt er Hebräisch und plant sogar, mit seiner letzten Freundin Dora Dymant nach dem damaligen Palästina auszuwandern. 

http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/26638

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