Thursday 4 May 2017

Wörter sind wie Waffen?


"Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?
Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht?
Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?
Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?"
(Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig, 3. Akt, erste Szene)

Shylocks berühmte Fragen zeigen den interessanten Übergang von der echten zur scheinbaren Bedrohung: tatsächlich werden wir (schwer) verletzt, wenn man uns (er-)sticht, wer besonders kitzelig ist, lacht, wenn er gekitzelt wird, und klar sterben wir nach der Einnahme eines tödlichen Giftes. Das alles sind nachprüfbare Erfahrungen. 

Dann erfolgt ein abrupter Übergang. Beleidigt wird man durch Wörter. Und? Schauen wir mal nach. Prellungen? Blutende Wunden? Brüche? Nichts dergleichen. Trotzdem scheinen pure Wörter dieselben Reaktionen auszulösen, werden von Shylock sogar in einem Atemzug mit physischer Gewalt genannt. 

Das ist heute wieder sehr aktuell. Wer es etwa wagt, auf Facebook u.a. die falschen Wörter zu schreiben, wird gelöscht, bei Wiederholung dieser "Verletzung" wird sein Konto gesperrt. Also wir halten fest: weil Leser Wörter anschauen können, die nach Ansicht einiger(!) unbedingt verletzend sein sollen, wird der Urheber dieser Wörter bestraft als hätte er mit einem Messer zugestochen. 

Um zu verstehen, wie derartige seltsame Einschätzungen zustande kommen, müssen wir einen kleinen Ausflug in die Neurologie bzw. Neuroanatomie unternehmen. Die Amygdala (aus dem griechischen: Mandelkern) ist eine evolutionär sehr alte Hirnregion, die Reize entschlüsselt und auswertet. Was ist gefährlich, was nicht? Welche Maßnahme ist die günstigste? Flucht oder Gegenangriff? Die Amygdala ist lernfähig. So laufen in unseren Städten keine wilden Tiger rum, aber dafür können Verkehrsmittel lebensgefährlich sein. Da sich hier ein Gegenangriff verbietet, bleiben Flucht bzw. Ausweichen, Stehenbleiben. Wenn diese Hirnregion gut eingestellt ist, entwickeln wir also eine wichtige Furcht vor einer objektiven Bedrohung. Sollte die Amygdala "falschen Alarm" auslösen, können höhere Hirnregionen normaler Weise die entwicklungsgeschichtlich alte Schwester an die Kandare nehmen: nee, das ist nun wirklich keine Bedrohung. Halt den Mund. Normaler Weise. Aber was passiert, wenn die höheren Regionen keine Ahnung haben und sich den uralten Instinkten unkritisch unterwerfen?
Tomographisch konnte inzwischen nachgewiesen werden, dass wir auf "angreifende" Wörter, die unser Weltbild in Zweifel ziehen, tatsächlich reagieren, als liefe ein hungriger Löwe direkt auf uns zu. Das liegt daran, dass alle Hirnregionen mit allen verbunden sind und fleißig miteinander reden. Ein Frühmensch, der nicht einmal sprechen kann, diskutiert mit dem Großhirn eines Homo sapiens sapiens. Mehr noch: wenn es nicht gut aufpasst, bleibt es in Knechtschaft. Schon deshalb ist es unsinnig, etwa religiösen Fanatismus mit Unbildung zu erklären und im falschen Umkehrschluss zu folgern, dass Bildung diesen Fanatismus beseitigen könne. Sehr viele Beispiele gerade aus der letzten Zeit widerlegen diese sozial-romantische Grille. Durchaus Gebildete, zum Teil mit Hochschulbildung, mutieren zu Halbaffen und ermorden andere Menschen, weil die sie "beleidigt" hätten. Steinzeit feiert mit dem 21. Jahrhundert fröhliches Schlachten. Und ohne Widerspruch. Fast. Denn sobald wir von diesen Tricks unseres eigenen Gehirns wissen, können wir diese Gefahr bannen, indem wir den gefährlichen Unsinn entlarven und umgehen. Problem: "der Mensch kann wohl tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will." (Arthur Schopenhauer). Somit müssen wir uns damit abfinden, dass ideologisch verblendete Mörder ihr Verhalten nicht ändern, ganz unabhängig von Intelligenz, Bildung und vermeintlicher "Aufklärung". Wir müssen uns gegen die fanatischen Mörder wehren. Sie zwingen uns dazu.
Diese kleine Betrachtung soll auf keinen Fall ein Freibrief sein für rüde Beleidigungen. Eine gepflegte Kommunikation ist immer wünschenswert. Nein, es geht mir um Verhältnismäßigkeit: Wörter sind Wörter, und Waffen sind Waffen. Kein Wort, keine Zeichnung, kein Foto, kein Film rechtfertigt eine gewalttätige Erwiderung. An diesem Punkt scheiden sich Zivilisation und Barbarei.

Steinhöfel spricht, und er spricht was Hörenswertes:
https://www.youtube.com/watch?v=-b1qhsXXm9E

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