Sunday 21 May 2017

Im Zeichen der Blende

Das Nachäffen des Bürgertums begann gleich nach der ingeniösen Erfindung des Angestellten. Die herrschende Klasse wendete Anfang des letzten Jahrhunderts einen grandiosen machiavellischen Trick an: wenn die Arbeiterklasse zu aufmüpfig wird, teile sie und herrsche weiter (divide et impera).

Das klappte vorzüglich. Man wählte einige "Blaumänner" aus, zog ihnen Anzug und Krawatte an, Siezte sie und nannte sie "Angestellte". Natürlich hätte man die Büroarbeiter weiterhin "Arbeiter" nennen können, aber das war nicht der Plan.  Die Emporgehobenen entsolidarisierten sich nämlich wunschgemäß schnell mit den "einfachen Arbeitern", denn sie waren nun etwas "Besseres", allerdings mit einem kaum höheren oder zum Teil sogar niedrigerem Einkommen, denn der neue Homo Bürokraticus konnte weder durch Akkord-, noch zur Schichtarbeit sein Salär aufbessern.

Weil der neue Kleinbürger auf keinen Fall mit einem Arbeiter verwechselt werden wollte, versuchte er, das Bürgertum in allen Bereichen nachzuahmen. Leicht gesagt, aber schwer getan mit dem Gehalt (bloß kein Lohn!) eines kleinen Angestellten. Der Markt reagierte schnell und schuf eine ganz eigene Produktlinie: ich nenne sie die Blende. Diese Produkte aus praktisch allen Bereichen sollten aussehen wie das Echte, aber nur wenig kosten. Das Kleinbürgertum, das nie zu sich selbst fand und eine eigene (Sub-)Kultur entwickelte, äffte fleißig nach: Statt Lachs gab's gefärbten Lachsersatz, es gab "unechten Kaviar", Klinkerblenden, Auspuffblenden, die einen Doppelvergaser vortäuschen sollten u.v.m. Man schuf also exklusiv für das Kleinbürgertum eine scheinhafte Produktwelt mit viel Glitzer und Pomp.

Ich erinnere mich:
Selbstbewusste Arbeiter wie mein Opa zum Beispiel belächelten diesen peinlichen Firlefanz eher. Während Nachbarn ihre einfachen Häuser mit "Klinkerblenden" aufmotzten, mein eigener kleinbürgerlicher Vater sich tatsächlich eine lächerliche Auspuffblende an seinen Fiat 1500 schraubte, ließ mein Opa sein einfaches Haus wie es ist.

Damals wurden auf Parties noch Schnittchen gereicht, die sich nicht "Canapés" oder "Finger Food" nannten. Belegt waren sie mit ehrlicher Leber- oder Mettwurst, aber natürlich auch mit fein gefärbtem Ersatzbelag, weil man sich den echten Kaviar, den richtigen Lachs damals nicht leisten konnte. Nachäffen musste man aber schon. Ein Leben im Zeichen der Blende.  

Wie bin ich überhaupt auf diese kleine Betrachtung gekommen?

Die vier "Billigzwiebeln" aus Fernost, die ich nun recht ausgiebig getestet und jetzt wieder zum Verkauf angeboten habe. Zunächst: es gibt selbstverständlich hochwertigere Uhren aus China, die das recht gute chinesische Seagull-, das sehr gute japanische Miyota-,  oder sogar ein Schweizer ETA-Werk beherbergen. Diese höherwertigen Uhren haben dann aber auch einen erheblich höheren Preis und sind beileibe keine Billigzwiebeln mehr.

Ich nenne hier keine Namen (es sind ohnehin nur Etiketten/Phantasienamen, keine echten Hersteller), aber Abkürzungen dürfen wohl gestattet sein. An meinen "Testarm" kamen:
1. Eine "K &". Protzig mit vielen Komplikationen. Soll und sieht "teurer aus als sie ist". Und da sind wir beim obigen Thema: die meisten dieser Uhren sind sogenannte "Hommagen", sie erinnern sehr absichtsvoll an hochwertige und teure Markenuhren. Okay, beim Stellen der Uhr haben sich Zeiger ineinander verkeilt. Der Stundenzeiger traf nicht mehr auf den entsprechenden Index, dann löste sich der Wochentagszeiger. Kurz: Schrott. Weitere Tests waren nicht mehr möglich.

2. Eine "W": schon etwas besser. Schlicht, nur mit etwas zu klein geratenem Datumsfenster. Ganggenauigkeit ziemlich schlecht, 30 Sek -/Tag. Nachreguliert, war dann besser. Gangreserve so gut wie nicht vorhanden. Nach Vollaufzug und ganztägigem Tragen machte sie nach 1.5 Tagen schlapp und musste wieder aufgezogen werden. So etwas nenne ich nicht "Automatikuhr", diese muss nämlich durchlaufen, wenn sie getragen wird.

3. Eine "J". Ganggenauigkeit ebenfalls mangelhaft. Auch rund 30 Sekunden -/Tag. Nach der Regulierung besser natürlich, aber die Gangreserve wieder mangelhaft. Musste nach 2 Tagen wieder aufgezogen werden.

4. Eine andere "J". Tatsächlich besser als die ersten drei Testuhren. Ganggenauigkeit befriedigend bis gut (+- 15 Sekunden sind okay bei dem Preis). Und immerhin hielt sie sich 10 Tage wacker bevor sie nachts stehen blieb. Aber auch hier wieder: soll aussehen wie...

Mein Resümee: Nein, diese Zwiebeln lohnen sich nicht, und ich werde auch keine weiteren testen. Mag ja sein, dass man mit viel Glück einen positiven Ausreißer erwischt, aber dann bleibt trotzdem das für mich unangenehme Gefühl, etwas protzig Nachgemachtes am Arm zu tragen. Sehr schön dagegen muten für mich russische Automatikuhren an (wenn ich mal die für mich grässlich überdekorierten kitschigen aussortiere). Ob Raketa, Slava oder Poljot, oder oder. Das sind zuverlässige Traktoren - und man bekommt sie gebraucht sehr günstig direkt aus Russland oder der Ukraine (u.a.). Heute trage ich eine schöne und erstaunlich ganggenaue Slava (Handaufzug, keine Automatikuhr) mit gut lesbarem Datum und Wochentag (Fenster auf der 3). Sie gehört zu meinem sehr bescheidenen Nachlass für meine Kinder, aber ich trage sie so gerne - und werde auch ganz vorsichtig damit umgehen.          

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